Ist Schreiben nicht auch „gestalten“? Und wenn es schon Projekte wie KalkLiest gibt – dann gehört doch die Buchbesprechung des jüngsten Werkes einer in Kalk lebenden Autorin, Ulrike Serowy, auf die Webseite unserer Stiftung KalkGestalten – oder?

Wie präsentiert/rezensiert man ein Buch, das man vor exakt acht Monaten las? Und es über die Zeit nicht vergaß, seit dem 20.02.2022 (!) aber irgendwie nicht die richtige Muße fand, eine kurze und vielleicht überknackige Buchbesprechung zu schreiben. Um das abgenudelte Wort „Momentum“ zu vermeiden.

Am besten, in dem man das Ganze noch mal liest. Das ist bei einer – was eigentlich? Novelle? Kurzroman? Erzählung? – Ganzschrift von 177 Seiten durchaus möglich. Herausforderung dabei: die eigenen Randnotizen und Bemerkungen geflissentlich ignorieren.

Wunderbar ist: Serowys „Wölfe vor der Stadt“ funktioniert auch noch beim zweiten Lesen.

Der Schreibstil ist so herrlich, mir fällt keine bessere Formulierung ein, im positiven Sinne „altmodisch“. Genau die Atmosphäre beschreibend. Aber sich dabei nie an eine moderne Gefühligkeit anbiedernd. Vielleicht ist klassisch das treffendere Wort? Genau das jedoch trägt zur wunderbaren Grundstimmung des gesamten Buches bei. Sollte ich es in ein Wort gießen, dann nutzte ich „Entschleunigung“.

Ich dachte auf Seite 54 zum Beispiel sehr intensiv, ja, so lange wie seit Jahren nicht mehr, über das Wort „Unhold“ nach. Die Wortwurzel, die Bedeutung, der Klang. Die Sprache wirkt ein wenig aus der Zeit gefallen – und ist doch wohltuend und beruhigend. Gelernt: Moderne Unsympathen kann man auch zeitlos beschreiben: “Sie bestellten gönnerhaft und gaben ein mageres Trinkgeld.“ Und zum allerersten Mal habe ich auch Geruch als Metapher verstanden.

Eine kurze Nebenbemerkung: Seit dem 24. Februar lese ich Passagen, die in der „Stadt“ spielen, völlig anders und ganz klar im Spiegel des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine.

Bedrückender.

Zurück zum Buch. Es ist eine Liebesgeschichte in der Jetztzeit, die aber auch in einer anderen Epoche spielen kann. Angenehm unbestimmt. Dann wieder nur ein Wort, „Mottenfrau„, und man hat nicht nur als Freund dunkler Musik eine konkrete Person vor Augen.

Es gibt Dinge, die ich mit viel Gewinn las, obwohl sie nur Miniaturen in der stimmigen Geschichte sind, die einen sehr schnell in den Bann zieht: Der Kampf des Künstlers oder der Künstlerin um den ersten Strich im Bild. Oder – analog-analog – um das erste Wort der Geschichte.

Oder das letzte.

Denn das kann Ulrike Serowy: Mit wenigen Pinselstrichen, ähem, Worten eine dichte Atmosphäre erschaffen. Es sind tolle Bilder dabei: „(…) die mittlere Fenstersäule des Hauses wurde erleuchtet, als hätte es eine Wirbelsäule aus Licht bekommen.“ Der erste Teil war für mich wie wenn „Soap & Skin“ ein Buch schreiben würde: getragen, energetisch, kraftvoll aber nicht „temporeich auf die Zwölf“. Toll!

In der zweiten Hälfte des Buches rücken die titelgebenden Kreaturen in den Mittelpunkt:

…und natürlich ist es fahrlässig zu behaupten, dass der Wolf ungefährlich wäre. Die öffentlichen Strukturen in Dörfern und kleinen Städten werden immer schwächer, und dann kommen nach und nach die Wölfe. Es wird gefährliche Begegnungen geben; dass der Wolf für uns Menschen ungefährlich ist, ist einfach eine Lüge.

Enorm spannend: Die „eigentliche“ Auflösung der Geschichte habe ich persönlich eigentlich lange kommen sehen. So wie mein Nahumfeld oft die Pointen meiner Humorverbrechen. Nicht jedoch die Reaktion darauf. Das war sehr, sehr überraschend und zeitgleich gelungen. Aus vielerlei Gründen kann und will ich das jetzt nicht vertiefen. Doch das hinterlässt den stimmigen Eindruck, der es mir einfach machte, diese Liebesgeschichte ein zweites Mal in die Hand zu nehmen. Auch in dieser unbeholfenen Gegenwart.

Wunderbare Figuren werden eingeführt, wie der lebenskluge Schäfer mit Kuhjungenattitüde. Mein Lieblingssatz des Buches ist & bleibt: „Aber wenn es nicht weh tut, ist es nicht wahr.

Schließen möchte ich mit: Kauft das Buch! Es ist gut. Lest es – oder verschenkt es. Jetzt habe ich schon soooo lange mit der Besprechung gebraucht, dass man auch durchaus an Weihnachten denken kann …

Ihr könnt euch selbst einen guten ersten Eindruck der wunderbaren dichten Atmosphäre verschaffen, beispielsweise bei diesem Beitrag von Ulrike Serowy im Mai 2021 für den Kalker Kaffee.

Im Veedel ist dieses Buch auch zu erhalten, in der wohlsortierten Buchhandlung von Urszula Jablonska in Kalk. Und ich habe es zum Glück geschafft, VOR der ersten Lesung Ulrikes von „Wölfe vor der Stadt“ im Veedel, die Buchbesprechung endlich fertigzustellen. Man sollte die „Macht des Lesens“ nie unterschätzen.


Ulrike Serowy, Wölfe vor der Stadt, kartoniert, 177 Seiten, Edition Outbird Gera, 2022.


Veröffentlicht von hschomberg